Literaturnobelpreis 1992: Derek Walcott

Literaturnobelpreis 1992: Derek Walcott
Literaturnobelpreis 1992: Derek Walcott
 
Der Schriftsteller aus Trinidad erhielt den Nobelpreis für eine Dichtung, »die von großer Leuchtkraft getragen und von historischer Vision aus einer multikulturellen Verpflichtung entspringt«.
 
 
Derek Alton Walcott, * Castries (Saint Lucia) 23. 1. 1930; 1941-53 Kunststudium am Saint Mary's College in Castries und an der University of the West Indies, Jamaika; ab 1956 Arbeit als freier Schriftsteller, Theater- und Kunstkritiker; 1959-76 Gründungsdirektor des späteren Trinidad Theatre Workshop, Gastprofessuren und Professuren an den Universitäten Columbia, Rutgers, Yale, Harvard und Princeton.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Ich bin von Grund auf und ohne Einschränkung ein karibischer Schriftsteller.« Nicht nur in Interviews, auch mit seinen Werken bekennt sich der Lyriker und Dramatiker Derek Walcott zur Kultur seiner Heimat, der Karibik. Die landschaftliche Schönheit, das Leben und die Gefühle von Fischern, Zuckerrohrbauern, Taxifahrern und Prostituierten, die afrikanischen Wurzeln und das Erbe der britischen Kolonialzeit sowie die eigenen Erfahrungen im amerikanischen »Exil«, das sind Walcotts wichtigste Themen.
 
 Multikulturelle Wurzeln
 
»Ich bin nur ein roter Neger, der die See liebt, ich hatte eine koloniale Ausbildung, ich habe den Niederländer, den Neger und den Engländer in mir, und entweder bin ich niemand, oder ich bin ein Volk«, heißt es in einem seiner Gedichte. Das kann man auch als ironisches Selbstbekenntnis lesen.
 
Als Derek Walcott 1930 auf Saint Lucia geboren wurde, gehörte die Vulkaninsel in den Kleinen Antillen noch zum britischen Kolonialreich; erst 1979 wurde sie unabhängig. Walcotts Mutter Alix war Lehrerin und Leiterin der Methodistenschule der Stadt; sein Vater, ein Staatsbeamter, wird als Bohemien und Aquarellmaler beschrieben. Er starb, als Derek und sein Zwillingsbruder Roderick Aldin gerade ein Jahr alt waren.
 
Zum Schreiben regte ihn seine Mutter an, die eine besondere Liebe zum Theater pflegte. Durch ihre häuslichen Rezitationen von William Shakespeare und Christopher Marlowe lernte Walcott bereits früh Dramen kennen — und hörte zugleich das Englisch, das seine poetische Sprache werden sollte. Im Alter von 18 Jahren veröffentlichte er auf eigene Kosten seinen ersten Gedichtband, »25 Poems« (englisch; 25 Gedichte). Im selben Jahr begann er ein Kunststudium an der University of the West Indies auf Jamaica, nach dessen Abschluss er 1953 nach Trinidad zog, wo er als Lehrer und Theaterkritiker für lokale Medien arbeitete und Gedichte sowie Theaterstücke verfasste.
 
1958/59 ermöglichte ihm ein Rockefeller-Stipendium ein Studium bei Jose Quintero, dem Gründer des Circle in the Square Theatre in New York. Wieder in Trinidad gründete Walcott 1959 den Little Carib Theatre Workshop (später Trinidad Theatre Workshop [TTW]). Viele seiner Theaterstücke wurden von dieser Theatergruppe aufgeführt, darunter das bekannte »Klein-Jean und seine Brüder« (1958 verfasst). Erst 1976 gab er den Posten als Direktor des TTW auf.
 
In seine Zeit am Theater fällt auch die Veröffentlichung des Werks, mit dem Walcott den internationalen Durchbruch als Dichter schaffte: die Gedichtsammlung »In einer grünen Nacht« (1962), eine Zusammenstellung von Gedichten aus den Jahren 1948-62. Darin feiert Walcott wie in seinen vorangegangenen Lyrikbänden besonders die karibische Landschaft und Naturschönheit.
 
Zwei Jahre später folgte »Erzählungen von den Inseln«, 1965 »The Castaway and other poems« (englisch; Der Schiffsbrüchige und andere Gedichte) und 1969 »The Gulf and other poems« (Die Kluft und andere Gedichte). Walcott hatte in diesen Gedichten nach den Beschreibungen der karibischen Natur sein Kernthema gefunden: Seine eigene kulturelle Isolation zwischen europäischer und afrikanischer Tradition. 1973 folgte die autobiografische Dichtung »Ein anderes Leben«.
 
Ab Beginn der 1980er-Jahre, nach Erscheinen des wichtigen Gedichtbands »Das Königreich des Sternapfels« (1979), widmete er sich neben dem Schreiben auch der Lehre. Er begann an amerikanischen Universitäten zu unterrichten, darunter die Columbia University, Yale, Harvard, Princeton und schließlich die Boston University. Dort hielt er erstmals 1981 eine Gastprofessur für Creative Writing und lehrt heute Drama und Dichtung. 1981 gründete Walcott außerdem an der Boston University das Boston Playwrights Theatre.
 
Trotzdem blieb er stets seiner Heimat treu; er kehrt oft nach Trinidad zurück. Den stetigen Wechsel aber zwischen seiner Heimat und der Fremde, seine Erfahrungen als schwarzer Dichter im amerikanischen »Exil« verarbeitete er mithilfe der Poesie, unter anderem in »Der glückliche Reisende« (1981) und »Mittsommer« (1984).
 
 Eine karibische Odyssee
 
1990 erschien Walcotts Hauptwerk, das Epos »Omeros«. Besonders aufgrund dieser »karibischen Odyssee« wurde Walcott zwei Jahre später als erster schwarzer Dichter mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. »Omeros« wurde dabei gewürdigt als »ein Werk von unvergleichlicher Kühnheit, in dem Walcott seine vielen Fäden zu einem einzigen Stück verwebt. [...] Wir finden Homer, Poe, Majakowski und Melville, Anspielungen auf Brodski [...] und er zitiert »Yesterday« von den Beatles.«
 
»Omeros« schildert in 64 Kapiteln in Dantes Versmaß »terza rima« und einer Sprache voll intensiver Metaphorik die Empfindungen einiger Menschen auf Saint Lucia. Walcott schafft dabei eine Brücke vom Alltag der postkolonialen Gegenwart hinein zu deren Wurzeln, in die Kolonialzeit, die Sklaverei, den Zweiten Weltkrieg und Seeschlachten des 16. Jahrhunderts. Ilias und Odyssee sind ihm ein loses Vorbild für die Handlung (und so tragen Walcotts Akteure Namen wie Achilles, Hektor und Helena).
 
»Meine Insel wurde die »Helena der West Indies« genannt, eine Anspielung auf die trojanische Helena«, berichtete Walcott 1998. »Saint Lucia wurde über 14 Mal von den Franzosen und den Briten erobert. [...] Das eindrücklichste Bild für die Odyssee ist für mich das einer Insel mit einem einzigen Segel auf einem Boot, das von der Insel abfährt oder anlegt. Ich [...] denke an den Mut und die Courage, in so etwas Zerbrechlichem so weit aufs Meer hinauszufahren [...] In »Omeros« habe ich lange Zeilen darauf verwendet, den Rhythmus der Wellen einzufangen, [...] und wollte einen Sprechgesang, auch als Tribut an Dante.« Walcotts Gesang erzeugt in vielen kleinen Szenen ein Gesamtbild der karibischen Kultur und ihrer afrikanischen, asiatischen und europäischen Wurzeln. »Omeros« wird so, wie die meisten seiner Werke, zu einem Spiegel der karibischen Multikultur.
 
Die über 40 Stücke und knapp 20 Lyrikbände, die Walcott bisher veröffentlicht hat, schrieb er fast ausschließlich auf Englisch. Nur selten streut er einzelne Sätze im französisch-kreolischen Patois ein, der Umgangssprache auf Saint Lucia. Dieses Schreiben in der Sprache der kolonialen Unterdrücker wurde ihm besonders von Kritikern auf den Antillen zum Vorwurf gemacht. »Die einfache Erklärung ist die, dass man im Metrum seiner Gedanken schreibt. Ich denke nicht im Dialekt«, kontert Walcott. Er setzt sich mit dem Problem auch in seinem Essayband »What the twilight says« (englisch; Was das Zwielicht sagt; 1999) auseinander. In einem seiner Gedichte schreibt er über die englischen Kolonialisten und ihre Sprache: »Es ist gut dass alles fort ist — außer ihrer Sprache, die alles ist.«
 
A. Loos

Universal-Lexikon. 2012.

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